Spekulationen darüber, dass es im Gehirn eine Struktur geben müsse, die dafür sorgt, dass (zumindest die meisten) Menschen religiöse Gefühle haben, gibt es schon lange.
Im Jahre 2004 wurde ein Neurowissenschaftler (Dean Hamer / USA) erstmals fündig:
ein Gen namens VMAT2 sollte die angebliche Quelle der Religiosität sein - verdächtig marktschreierisch von Hamer als "Gottesgen" bezeichnet.
Seither ist es indes ziemlich still um dieses Gen geworden ...
Wenn dann jetzt im Jahre 2021 angekündigt wird (siehe https://www.scinexx.de/news/medizin/gehirnareal-fuer-spiritualitaet-lokalisiert/), dass man im Gehirn das "Zentrum für religiöse
Gefühle" entdeckt hätte, ist wohl Vorsicht angeraten.
"Periaquäduktales Grau" (PAG) heißt das Hirngebiet. Es gehört zum sogenannten Hirnstamm und ist damit ein entwicklungsgeschichtlich recht altes Gebiet - z.B. haben auch Reptilien
ein PAG in ihrem Gehirn (ein erster Hinweis, dass das PAG von der Evolution kaum dazu 'gedacht' war, als religiöses Zentrum zu funktionieren ...)
Auf die Idee, dass das PAG bezüglich religiöser Gefühle von Menschen eine Rolle spielt, ist man durch klinische Befunde gestoßen:
je nach dem, welche Teile des PAG im Zuge von Hirntumoroperationen mit entfernt werden mussten, waren die Patienten nach der OP entweder wesentlich religiöser als vorher oder gerade im Gegenteil
weniger gläubig.
Der Befund ist durchaus überraschend und wertvoll, auch vor dem Hintergrund, dass viele andere ebenfalls überprüfte Hirngebiete keinen solchen Effekt zeigten - aber ist
das PAG deswegen schon ein 'Zentrum'(!) für Spiritualität, erklärt ein natürliches Bedürfnis nach Religion?!
Es sind nicht nur die Schlangen, die vermutlich nicht an einen Schlangengott glauben, die gegen diese Behauptung sprechen.
Das PAG ist mit anderen (z.T. nur bei Menschen, nicht bei Schlangen vorkommenden ...) Gehirnregionen stark verbunden, und es ist kaum glaubhaft, dass so etwas Komplexes wie religiöse
Vorstellungen sich auf einfache Hirnstrukturen zurückführen lassen.
So wie die Beteiligung des PAG z.B. an der Schmerzwahrnehmung es auch nicht zu einem 'Schmerzzentrum' machen.
Eine sehr naheliegende Frage ist z.B. auch: was ist mit den 20% Nichtgläubigen - ist deren PAG anders? 'Leiden' sie gar an einem Hirndefekt?!
Es ist schade, dass die eigentlich spannende Erkenntnis zur Rolle des PAG für religiöse Gefühle in den Hintergrund gerät, und der Artikel stattdessen - mal wieder - eine tendenziöse Diskussion
lostritt, auf die es noch gar keine Antworten gibt.
Wohl eher ein Lehrstück, wie Veröffentlichung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und das Berichten darüber in den Medien nicht funktionieren sollte.
Die Corona-Pandemie sollte gezeigt haben, dass Wissenschaft harte Kleinarbeit ist und bei komplexen Sachverhalten (wie auch das Thema 'Gläubigkeit von Menschen') kaum einfache Wahrheiten zu
erwarten sind.
Man tut der Wertschätzung für die Wissenschaften keinen Gefallen, wenn man glauben macht, sie könnten Wunder vollbringen. Oder wenn man, nur um Aufmerksamkeit zu bekommen, emotionale Diskussionen
lostritt, die kein allseits akzeptiertes Ergebnis haben können, weil wesentliche Erkenntnisse (noch) gar nicht vorhanden sind.
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